Zeitzeuge: Erinnerungen an schlimme Tage im April/Mai 1945 in Spandau

Im überfüllten Luftschutzkeller im Haus von „An der Kappe 81“, saßen wir bei Kerzenlicht, Strom und Wasser gab es seit Tagen nicht mehr. Draußen war es Tag ; als jemand von der Kellertreppe her rief: „die Russen kommen“. Unsere Propaganda hatte ja nichts Gutes über die Rotarmisten berichtet. Wir wussten nicht was auf uns zukommen würde. Alle hatten Angst. Eine Frau mittleren Alters, die im Vorraum des Luftschutzkellers saß, gab sich als Lehrerin zu erkennen. Sie hatte Zuflucht bei uns gefunden und stammte aus dem Bezirk Rummelsburg. Sie sagte, dass sie Russisch könne. Sie empfing die ersten Rotarmisten, die nach deutschen Soldaten suchten, und führte sie durch die Kellerräume. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals. Sonst blieben wir unbehelligt.

Als keine Kämpfe mehr zu erwarten waren, durften wir Kinder, ich war damals 10 Jahre alt, vor das Haus um Luft zu schnappen. Ich stand am Bürgersteig, als drei gefangene Wehrmachtsangehörige mit erhobenen Händen, bewacht von zwei Russen, abgeführt wurden. Sie kamen von der Hochgerichtstraße und gingen in Richtung Rathaus.

Später erkundeten wir unseren Wohnblock, der ja die Hausnummern 75 bis 81 umfasste. Vor dem Haus 75 und in Richtung 73, waren mehrere Werfergranaten in den Gehsteig und der Fahrbahn ins Pflaster eingeschlagen, aber nicht krepiert. Später hörten wir von Anwohnern, dass in der Seegefelder Straße Kämpfe stattgefunden hätten und viele Tote dort liegen. Unsere Neugier war groß. Ohne uns bei unserer Mutter abzumelden, liefen wir, unser Nachbarsjunge Gerhard Ottemann und ich los. Andere Kinder schlossen sich uns an. Wir durchquerten die Häuserblöcke und kamen zur Seegefelder Straße. Gegenüber in Höhe der Dallgower Straße, war eine große Blutlache, in der MG-Gurte und ein russischer Stahlhelm lagen. Gefallene Rotarmisten sah man nirgends.

Wir überquerten den Petzold Weg. An der Hausecke lag ein toter alter Mann in gekrümmter Haltung. Dann sahen wir die teils zusammengeschossenen Wehrmachtsfahrzeuge und Schützenpanzerwagen. Die Kolonne wollte nach Staaken durchbrechen und geriet in den Hinterhalt. Etwa 10 bis 15 Fahrzeuge waren es, die bis zum S-Bahnhof Spandau West in Höhe der Staakener Straße standen. Gegenüber vom

Seifengeschäft Klenner hatte man die Gefallenen Soldaten auf einem Firmengelände gelegt. Vier junge Blitz-Mädchen (Luftwaffenhelferinnen) waren auch darunter. Die Gesichter hatte man mit Tüchern und Decken verdeckt. Ein Blitz-Mädchen stammte aus der Teltower Straße, dass hatten wir später erfahren.

Wir Kinder schauten uns das Szenarium an und waren entsetzt.

Fast am Ende der Fahrzeugkolonne standen zwei ausgebrannte Schützenpanzerwagen. Zwei verkohlte Leichen hingen über der Panzerung und ein dritter Soldat saß verkohlt noch am Steuer. Russische Offiziere und Mannschaften standen auf den Bürgersteigen und sahen zu, wie ein Arzt im weißen Kittel und ein paar Zivilisten die Toten nach Erkennungsmarken und Soldbücher durchsuchten.

Als ich nach Hause kam, sagte mir meine Mutter, dass eine Frau Krüger gekommen sei um uns mitzuteilen, dass unser Bruder Franz, der als Falkhelfer eingezogen war, schwer verwundet in den Kasematten an der Teltower Straße liege. Man hatte die Verwundeten aus dem Bereich des Olympia-Geländes dorthin getragen. Die Russen hatten die Anwohner der gegenüber liegenden Häuser aus den Kellern geholt und befohlen, sich um die Verwundeten deutschen Soldaten und die Gefallenen zu kümmern. Das Sanitätspersonal der Wehrmacht hatte sich abgesetzt oder war in Gefangenschaft geraten.

Unser Bruder Franz gab sich der Frau Krüger zu erkennen, dass er An der Kappe 79 zu Hause sei. Als keine Gefechte mehr stattfanden, lief Frau Krüger los und benachrichtigte meine Mutter. Unser Vater war mit der Firma BMW nach SachsenAnhalt verlagert worden.

Meine Schwester Agnes, die Nachbarin Frau Ottemann, ihre Tochter Ursel und zwei Männer aus der Nachbarschaft zogen mit einem Handkarren, den der Klempnermeister Kirst von gegenüber uns lieh, und einem Feldbett, los. Meine Mutter konnte nicht mitgehen, denn wir hatten noch zwei kleine Brüder. Nach Stunden kehrten alle wohlbehalten zurück mit einem zweiten kleinen Leiterwagen, auf dem noch ein verwundeter Soldat lag. Mein Bruder hatte einen Granatsplitter im Unterleib und der zweite Verwundete, ein Junglehrer aus Königstein (Sachsen), hatte Splitter im Rücken und Gesäß. Frau Ottemann, die den Mann und einen Sohn an der Front verloren hatte, nahm den Verwundeten auf.

Unser Bruder, der ja auch Uniform trug und der andere Verwundete, konnten weder in ein Lazarett noch in ein Krankenhaus gebracht werden. Sie wären unweigerlich in Gefangenschaft geraten.

Dr. Manitz wurde verständigt, der nach langem Warten kam. Er versorgte die Verwundeten so gut es ging. Unser Bruder Franz hätte sofort Operiert werden müssen, doch unter den herrschenden Umständen war es nicht möglich gewesen. Es dauerte noch ein paar schreckliche Tage, bis eine Oberschwester aus unserer Gemeinde eine Gelegenheit sah, unseren Bruder auf Schleichwegen heimlich ins Lynar-Krankenhaus einschleusen zu können.

Der geliehene Leiterwagen musste nun der Frau Krüger in die Teltower Straße zurück gebracht werden. Sie hatte sich den Wagen auch nur von einem Kohlenhändler ausgeliehen gehabt. So ein Wagen war ja damals nicht mit Geld zu bezahlen. Wir, meine Schwester Agnes und ich, machten uns auf den gefährlichen Weg den Wagen zurückzubringen. Beide hatten wir große Angst, dass uns die Rotarmisten belästigen könnten.

Unser Weg führte uns am Luftschutzbunker am Grüner Weg vorbei (heute Borkzeile). In Richtung Rathhaus, auf halben Weg, stand ein leerer und verlassener Munitionstransporter (zweirädig) nebst Ausrüstungsgegenstände.

Hinter den Lauben an der Moltkestraße, heute Galenstraße, mussten wir die zum Teil zerstörten Splittergräben durchqueren. Auf der Mittelpromenade des Askanierrings, lag ein toter Polizist, dem man die Stiefel bereits weggenommen hatte. Tote brauchen ja nicht mehr laufen. Seinen Kopf hatte man mit einer Decke zugedeckt. Hinter der Berliner Bank, einem Einzelgebäude am Rathausvorplalz, standen Fahrzeuge und Geschütze aller Art. Wir zogen weiter.

Am Wall vorbei zur Breitenstraße, die wir leider nicht benutzen konnten. Trümmer lagen überall herum und die Häuser drohten einzustürzen. Wir gingen zum Schulhof meiner ehemaligen Schule an der Mauerstraße. Rechts, wo heute Parkplätze sich befinden, lagen viele tote Soldaten. Einer saß an einem Baum gelehnt mit dem Helm im Nacken. Als ich ihn ansprechen wollte, sah ich, dass er bereits tot war. Sein Brustkorb zeigte Einschüsse.

Der Rathausturm brannte noch. Wir zogen über den Schulhof in Richtung Ausgang Lindenufer. Als wir um die Ecke bogen, lagen in Reihen tote Zivilisten (Volksturm und andere). Notgedrungen mussten wir mit unserem Gefährt die Leichen übersteigen. Ein schreckliches Gefühl. In der Mauerstraße, an der Ruine der Schule, stand brennend ein Schützenpanzerwagen. Mitten auf dem Fahrdamm, kurz vor dem Luftschutzbunker, lag in einer Oel/Wasserlache eine tote junge Frau mit ihrem Kleinkind. Ein Anblick, den ich bis heute nicht vergessen habe.

An der Charlottenbrücke, die wir überqueren mussten, standen viele Rotarmisten. Links und rechts der Brückenummauerung standen zwei T 34 Panzer, deren Geschützrohre in Richtung Spandau Hauptbahnhof zeigten. Die Brücke selbst war noch vom vielen Blut der Gefallenen und toten Zivilisten dunkelrot und glitschig. Die Leichen hatte man einfachheitshalber in die Havel geworfen. Die Fußgängerwege rechts und links waren teilweise zerschossen und nicht begehbar. Wir zogen also weiter über den Fahrdamm am Luftschutzbunker der anderen Seite vorbei in Richtung Hotel „Kaiserhof“. Vorher mussten wir uns über die Trümmerberge quälen, die die Straße und Gehwege blockierten.

Auf der Kreuzung vor dem Hotel „Kaiserhol‘“, mitten auf dem Fahrdamm, lagen zwei tote Pimpfe in ihren Uniformen. Einer der beiden hatte strohblondes Haar. Die Schuhe hatte man ihnen schon abgenommen. Ihre Gesichter hatte man ebenfalls mit Tüchern zugedeckt.

Ausrüstungsgegenstände lagen in der Grenadierstraße überall herum. Die Ruhlebener Straße war mit Wehrmachtsfahrzeugen vollgestopft. An der Spitze der Kolonne standen zwei Jagdpanzer und fast am Ende der Fahrzeugkolonne stand ein Feldpostwagen, den man geplündert hatte. Der Fahrdamm war übersät mit Feldpostbriefen, Soldbüchern Sparbüchern und Geld. Gern hätte ich einiges eingesammelt und mitgenommen, doch überall standen Rotarmisten mit der MP im Anschlag herum und passten auf. Ich traute mich nicht was aufzuheben. Man hätte später vielleicht manches Schicksal aufklären können. Aus den ausgebrannten Häusern linker Hand, lagen vereinzelt tote Zivilisten. Nun waren wir in der Teltower Straße. Der Frau Krüger übergaben wir den kleinen Leiterwagen und bedankten uns nochmals ganz herzlich für ihre Hilfe. Leider verstarb sie ein Jahr später an Typhus.

Meine Schwester zeigt mir gegenüber. von den Wohnhäusern den Ort in den Kasematten, wo man die Verwundeten gefunden hatte. In der Ummauerung der Kasematten hatte man zwei Durchbrüche gemacht. Vor diesen Öffnungen standen 8,8 cm Flak. Das eine Geschütz zeigte in Richtung Havelchaussee und das zweite in Richtung Ruhlebener Straße. Die Verschlüsse hatte man entfernt. Die Gefallenen aus den Kasematten hatte man bereits am Straßenrand vergraben. Auch auf dem Heimweg wurden wir von russischen Soldaten weder belästigt noch kontrolliert. Beide hatten wir einen Schutzengel.

Am nächsten Tag fand man unseren Nachbarn aus Haus 77, Herrn Köhler. Er lag bei den Toten am Rathausvorplatz. Auch er war noch zuletzt zum Volkssturm gezogen

worden Man begrub ihn hinter dem Häuserblock in einem Garten. Zur gleichen Zeit trug man vier Leichen in Bettlaken gehüllt aus dem Haus Nr. 75 c. Das Ehepaar hatte sich mit ihren zwei Töchtern das Leben genommen. Auch sie wurden vorübergehend in einem Garten beigesetzt. Als die Friedhofsverwaltung ihren Dienst wieder aufgenommen hatte, wurden die Toten umgebettet. Wochenlang zogen Pferdefuhrwerke mit den Leichen die Hochgerichtstraße entlang zum Friedhof „In den Kisseln“. Den süßlichen Geruch bin ich lange nicht losgeworden.

Unser Bruder starb kurz vor seinem 16. Geburtstag im Lynar-Krankenhaus. In seiner Militärdecke gehüllt wurde er „In den Kisseln“ beigesetzt. Er liegt auf dem Ehrenfeld. Joseph Lirche

Wir freuen uns über weitere Zeitzeugenberichte per Post oder Mail (dorf-zeitung@gmx.de).

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