Erinnerungen: Das Fährunglück vor Scharfenberg

Bild: privat

„Herbert, willst du nicht die „Paula“ beaufsichtigen?“, war die Frage unseres Bauern ,„Distel“ an mich. „Du kannst doch so gut mit ihr – müßte allein die Nacht im fremden Stall verbringen, und da ist sie bestimmt sehr unruhig! Ist ja nur eine Nacht. Morgen haben wir die Schute wieder klar und da kommt sie zurück! Ich könnte ja auch bei ihr sein, aber ich habe hier auf der Insel viel zu tun. Und jetzt in den Sommerferien sind ja fast alle Schüler weg und nur ihr Wenigen seid noch hier.

Mein sich auf der Insel durch mehrere Tätigkeiten entwickelnder Pragmatismus hatte nun eine Aufgabe mehr, um mich für spätere Zeiten als Allroundtalent auf die Welt loszulassen. Das forderte ich mir selbst ab. Schließlich war ich Schüler der neunten Klasse der OPZ und sollte „Handwerker“ lernen. Die Schulfarm bildete damals ab der siebten Klasse zukünftige Akademiker in der OWZ bis zum ABI und eben die Handwerker ab der Neunten für ein Jahr aus. Ich war mit überdurchschnittlicher Intelligenz ein Schüler zwischen den Schulsystemen.

So hatte ich in der Tischler-Innung schon eine alte schwarze hölzerne Pissbude aus den Gründerjahren der Schulfarm, die vom Urinstein zusammengehalten wurde und die am Zugangsweg zum „Bollehaus“ stand, mit abgerissen. Ohne Schutzhandschuhe und ohne Sicherheitsschuhe, der rostigen Nägel wegen. Aber so war das noch 1955. Meine hölzerne achteckige Schale auf meinem Schreibtisch zeugt davon, daß ich noch mehr als Pissbuden einreißen konnte. Als Strafarbeit für ungenehmigtes Benutzen von Turngeräten – ohne Aufsicht eines Lehrkörpers (!), die Mültonnen unserer Wohnblocks aufgeladen und zur Fähre gefahren. In der Schlosser-Innung Skier mit Metallkanten versehen. In der Handdruckerei unsere Schülerzeitung ,„Der Fährmann“ im Setzhaken zusammengesetzt, gedruckt und mit Skizzen und Linolschnitten verschönt und mit unserem Musiklehrer „Longard“ Kräfte gemessen – aber Pferdeflüsterer war ich noch nicht. Ich habe Lupinien gemäht, Fallobst zur Mosterei mit Bauer „Distel“ nach Alt-Heiligensee gefahren. Habe die Hufe von „Paula“ beim Hufschmied, auch in Alt-Heiligensee, gestützt. Kartoffeln für die Schweine täglich gekocht und denen mit Kleie, Wasser und frisch gemolkener Kuhmilch gemischt, die Tröge gefüllt. Ich war Schlachterhelfer wenn unser Kalb „Adolf“ vom Metzger aus Heiligensee, fachgerecht zu Rouladen, Gulasch und Hesse verarbeitet wurde, weil es im falschen Geschlecht geboren war und nie ein produktives Euter hätte haben können. Und wenn auch ein Schwein hat dran glauben müssen, rührte ich sein Blut für die Wurst. Kurzum, ich war in der Landwirtschafts-Innung beinahe eine unbezahlte Vollkraft, die man mit Enthusiasmus konditioniert hatte. Ich befutterte täglich die Kühe und unser kräftiges Kaltblut „Paula.“ Säuberte die Ställe, streichelte alle und bürstete ihnen manchmal das Fell. Nun brauchte „,Paula“ meine Nähe, aber die Arbeit mußte gemacht werden.

Die Kühe mußten von Hand gemolken, frisches Gras und Lupinien vorgelegt werden und vom Heuboden in der Scheune warf ich durch eine Luke frisches Stroh. Alles irgendwie in einem gleichablaufendem Ritus – so wie es mir Bauer „Distel“ mal gezeigt hatte. Die Milch durch einen Filter gegossen, hiefte ich sie in zwei Alu-Kannen auf unseren Handkarren mit den leisen Gummireifen, und brachte die Milch zum „Bollehaus“, wo unsere Küche war. Im Hochsommer war schnelle Kühlung evident. Da die Schweine einen Teil der Milch bekamen, fand ich es nur recht und billig, selber ein paar Schluck kuhwarmer Milch zu trinken -schließlich war ich im Aufbau – also an der Schwelle vom Kind zum Jugendlichen. Das hätte mir als „ernstes Vergehen“ angelastet werden können, da ich „Gemeinschaftseigentum“ ganz egoistisch für mich nahm. Unsere Schülermitbestimmung hatte da einen sonderbaren Kodex. So wollte sie Demokratie praktizieren. Ich nannte es Eigenbedarf aus einer Notlage heraus – da mein Körper die ganzen Inhaltsstoffe unbedingt brauchte. Aber niemand
stellte mich zur Rede.

Die für nicht so große Lasten ausgelegte Schute, die technisch eine „Seilfähre“ war, war gesunken. Ein antiquiertes Übersetzritual und nicht vorhandene Sicherheitseinrichtungen führten zum Sinken. Die Berliner Wasserwerke bauten auf der Insel Tiefbrunnen und einer ihrer LKW war wohl zu schwer. Er stand auch zu sehr auf einer Seite und die Handbremse war nicht genügend angezogen – geschweige ein Gang eingelegt oder Bremsschuhe unter den Rädern. Schon legte sich die Schute auf die Seite und sank. War absehbar! Allein sie mit Last zu bewegen war gefährlich, anstrengend und vorsintflutig.

Eine dreiviertel Meter lange Holzkluppe, zum dickeren Kopf mit einer Nut für ein im Wasser durchhängendes Stahlseil gedacht – damit querender Schiffsverkehr nicht dagegen läuft – das man vorher hochfischte und vorn und hinten in eine Führungsrolle einklinkte, diente mindestens zwei Mann als Muskeltraining, wenn man mit der verkanteten Kluppe eine hohe Reibung am Seil erzeugt, die Schute unter den Füßen wegschob und vorantrieb. Am anderen Ende die Kluppe ohne Druck vom Seil abhob, schnell ans andere Ende der Schute lief, die Kluppe wieder einhakte, dabei an dem anderen „Fährmann“ vorbei mußte … und schon war man, wenn man Glück hatte, mit einem ungesicherten LKW am anderen Ufer! Die Schute am Poller mit einem Tau sichern, war obligat. Und das bei Wind und Wetter. Also Fährmann war ich auch noch. Nur diesen Tag nicht.

„Paula“, die gerade frische Strohballen von einem Heiligenseer Bauern mit Inselbauer „Distel“ holte, war nun am anderen Ufer und saß samt Kutschwagen und Strohballen fest. Das Stroh hatte „Paula“ sich ja schon selbst mitgebracht, also zog ich mit Besen, Hafe, Wasser und ein paar Decken zu ihr – und wir versuchten im Vorraum der männlichen Umkleide des Strandbades Tegelort – also in fremder Umgebung, eine Nacht gemeinsam auszukommen. Nervös wie sie war äpfelte sie überproportioniert, furzte laut, wieherte leise, knischte mit den Zähnen und stampfte mit den Füßen. Aber diese Nacht haben wir überstanden. Ich denke noch oft daran.

Herbert Uebelmeßer in der Handdruckerei, 1955. Bild: privat

Herbert Uebelmeßer, Tegelort

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