Vor dem Haus an der Oranienburger Chaussee 53 erinnern eine Gedenktafel und ein Stolperstein an das Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau: Annemarie Wolff-Richter errichtete und leitete hier in Frohnau von 1926 bis 1933 sehr erfolgreich ein heilpädagogisches Kinderheim, in dem Jungen und Mädchen, seelisch gesunde und beeinträchtigte Kinder gemeinsam erzogen und nach individualpsychologischen Grundsätzen in ihrer Entwicklung unterstützt wurden. Das Heim war ein Vorzeigeprojekt der Kinder- und Jugendpflege im Berlin der Weimarer Republik – und wurde zum Schutzraum vor nationalsozialistischer Verfolgung. Annemarie Wolff-Richter unterstützte den kommunistischen Widerstand und half jüdischen Mitmenschen, indem sie Kinder und Erwachsene versteckte, Fluchthilfe und Kurierdienste leistete. 1937 entkam sie selbst mit ihrer Tochter und einigen ihr anvertrauten Kindern nur knapp nach Jugoslawien. In Zagreb setzte sie ihr Engagement auch während des Krieges fort, bis die Behörden sie aufspürten. Annemarie Wolff-Richter wurde 1944 verhaftet und in das Konzentrationslager Jasenovac gebracht, aus dem sie nie zurückkehrte. Ihre Tochter Ursula kam 1959 als Ehefrau ihres ehemaligen Fluchthelfers Ernst Ludwig Heuss und Schwiegertochter des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zurück nach Deutschland – im Gepäck einen Schatz von Briefen, Dokumenten und Fotos aus der Vergangenheit, die sie hatte retten können. Dieses Quellenmaterial ist nun zusammen mit persönlichen Erinnerungen und Zeugnissen zahlreicher Weggefährten in die erste umfassende Biografie über Annemarie Wolff-Richter eingeflossen: „Mit dem Kinderheim auf der Flucht“ spiegelt das Bild einer unkonventionellen, opferbereiten und mutigen Pädagogin, die ihre Lebensaufgabe mit einer klaren inneren Haltung erfüllte. Das Buch macht ein Stück Zeitgeschichte aus sehr persönlicher Perspektive anschaulich. (Ludwig T. Heuss (Hg.), Marina Sindram: Mit dem Kinderheim auf der Flucht. Annemarie Wolff-Richter (1900-1945), Heilpädagogin im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Schwabe Verlag 202.)
Marina Sindram, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Familienarchiv Heuss