Leserbrief September 2015 „Stauf´s Kolumne im Juli-Heft“

Sehr geehrter Herr Stauf,
Sie erwähnen im Juli-Heft zwei Kommentare aus einer Online-Zeitung. In ersteren wird das geistlose Gebaren von illustren Käufern, die aus Läden, von denen sie bereits stundenlang kampierten, stürmen, mit den neuesten Appel-Elektrogeräten einen primitiven Jubel veranstaltend um ihre eben erstandenen Prestigeobjektive wie Heiligtümer zu feiern. –
Ein anders geplagertes Erlebnis bot sich mir vor einiger Zeit am Alexanderplatz dar. Dort veranstaltete an der Weltzeituhr eine etwa zehnköpfige Gruppe einen Sing-Song, deren Aussage sinngemäß in der Frage bestand, wo denn der Kapitalist seinen Reichtum herhabe. Rhythmisch verarbeitet und mit endlosen Wiederholungen in kommunistisch erfundener Phrase. Ich wollte dem Veranstalter die Frage an Ort und Stelle live und in „Echtzeit“ beantworten. 60 m weiter befindet sich nämlich das SATURN-Kaufhaus (Linksjargong: Konsumtempel). Dort kann man realistisch sehen, wie das Kapital von „ganz allein“ ohne Druck und Zwang (sprich: Ausbeutung) in die Fänge der habgierigen Verteufelteten wechselt und das bestimmt nicht zu knapp aufgrund der vielen Kaufwilligen. Aber die Gruppe beendete ihr Programm nicht, und ich konnte nicht auf das Paradoxon hinweisen. Dorf als vermeintlich interessierter Zuhörer herumstehen, war mir dann doch zu albern und ich ging weiter.
Was würde wohl Altvater Karl Marx von sich geben, könnte er kurz auf der Erde weilen?: „Meine liebe produktionsmittellose, ausgebeutete Klasse, ich bin über euch sehr enttäuscht. Da habe ich nun mein ganzes Leben für euer Wohl das Wesen des Kapitalismus wissenschaftlich analysiert. Ein Land hatte sich sogar ihre Ideologie einer ‚Diktatur des Proletariats‘ auf die Fahnen geschrieben. Ist aber abgelassen worden, weil es ohne Kapitalisten nicht funktionierte! Und jetzt sehe ich, wie ihr in diesem ‚SATURN-Tempel‘ der euch verhassten Klassen ohne Murren in ekstatischer Verzückung und kindischer Freude mit euren Peanuts das Großkapital zu horrenden Dimensionen auffüllt! Das versteh‘, wer will. Alle Mühe, die ich mir mit den 3 Wälzern ‚Das Kapital‘ gemacht habe, alles umsonst! Trotzdem: ‚Proletarier und Produktionsmittelbesitzende aller Länder einigt euch!'“ Sprach’s, seufzte und begab sich zur wohlverdienten Ruhe.
Dieses erwähnte Ritual mit den gerade im Geschäft in etwas modifizierter Funktion und mit schrillen Design erstandenen Elektrogeräten findet ja nicht alle Tage statt. Viel irrer sind jedoch die sogenannten Selfies. Deren Benutzung, besonders von erwachsenen Wirkender, ist ja so etwas an Peinlichkeit durch nichts zu überbietender Schwachsinn. Es gab auch schon tödliche Unfälle an den Hochspannungsoberleitungen der Deutschen Bahn!?! Das alles erinnert an die Situation, wenn man einen Affen einen Spiegel gibt und seine Reaktion beobachtet. Es ist im Vergleich zu den selfiebetreibenden Beknackten wie eine Kopie 1:1. Ist auch nicht verwunderlich, hat doch homo sapiens 97% der Gene mit seinem tierisch nächsten Verwandten gemeinsam. Gibt es bei diesen Leuten auch Alpha-Männchen („Graurücken“) bzw. Alpha-Weibchen? Oder wurde Dorf schon gekentert? Das also ist das Kollektive Unbewusste (C.G. Jung), das hier mit brachialer Gewalt an die Oberfläche sprudelt. Was wird es alles so an Überraschungen geben, wenn das Unbewusste weitere tiefschlummernde Geheimnisse preisgibt? –
Und nebenbei hat die erwähnte sozialkritische Sangesgruppe von der Weltzeituhr eine weitere Kapitalquelle zu entdecken. Die Selfiestöckchen sind in der Herstellung kostengünstig und im Verkaufspreis von jedem Affennachmacher locker erschwinglich. Ein Stock mit der Halterung für den Spiegel (Pardon) Handy und das „Produkt“ ist fertig mit nicht allzu riesigen Erlös. Aber die Masse, der den Schwachsinn Frönenden macht’s! Mit freundlichen Grüßen Horst Buchholz

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